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Beitrag zur Diskussionsveranstaltung „Keine Stimme für Rassismus und Krieg“ am 16.1.2025

Am Donnerstag, 16.01.2025 hat Stolipinovo in Europa an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Keine Stimme für Rassismus und Krieg“ in Duisburg-Hamborn teilgenommen.  Die Veranstaltung wurde vom Bündnis „Duisburg stellt sich quer“ organisiert und ist Teil der gleichnamigen Kampagne, mit der sich das Bündnis und seine Mitgliedsorganisationen gegen ausländerfeindliche Tendenzen und Maßnahmen in der deutschen Politik stellt und zum Widerstand gegen diese aufruft. Auf dem Panel gab es außerdem Beiträge von der

Initiative Marxloher Nachbarn, von der Jugend gegen Rassismus und dem Bündnis Heizung Brot und Frieden. Im Folgenden geben wir die Rede von Philipp Lottholz, Vorstandsmitglied von Stolipinovo in Europa e.V., wieder.

Guten Abend und vielen Dank für die Einladung zu diesem wichtigen Gespräch. Ich darf heute von der Arbeit unseres Vereins berichten. Wir unterstützen Menschen aus Südosteuropa, konkret Rumän:innen und Bulgar:innen, oft mit Rom:nja und türkischen Hintergrund in Form von Sozialberatung und Begleitung in ihren alltäglichen Kämpfen mit Behörden, Vermietern und Arbeitgebern. Aktuell können wir die Sozialberatung nicht fortsetzen und bitten um Spenden unter dem Link den Ihr hier scannen könnt.

Wir haben 2023-24 mit Unterstützhung der Anti-Diskrimnierungsstelle des Bundes ein Forschungsprojekt zu Diskriminuerung von Migran:innen in Duisburg durchgeführt. Hierzu gibt es den Bericht unter dem Titel „Multiple Prekarisierung – Zur Lebenslage osteuropäischer Migrant*innen in urbanen Sozialräumen“ (Link?), den Polina Manolova mit einem Kollegen an der Uni Duisburg geschrieben hat. Ich darf heute ein paar Einblicke aus dem Bericht und der Forschungsarbeit dazu vortragen und auch unsere Schlussfolgerungen dazu was politische Handlungen und Initiativen angeht.

Polina reagiert nachher gerne auf weitere Fragen und Kommentare hierzu.    

Während wir viel und in letzter Zeit primär zum Thema der Zwangsräumungen gearbeitet und mobilisiert haben – mit Shabnam und weiteren Kolleg:innen – fokussieren wir uns heute mehr auf den Bereich Arbeit und wie die Ausbeutung und Entrechtung von Migrant:innen im Arbeitsmarkt verbunden ist mit einem breiteren Desinteresse der Politik was die Lage von Migrant:innen angeht.

Der Duisburger Norden und insbesondere Marxloh sind aufgrund ihrer besonderen geografischen Lage als Knotenpunkt im Verkehrs- und Handelsnetz zwischen dem Ruhr-Gebiet, dem Südosten der Niederlande und im Nordosten Belgiens, schon historisch gesehen ein bedeutendes Zentrum für die Anwerbung von migrantischen Arbeitskräften, und zwar in einem breiten Spektrum an lokalen und regionalen Märkten bedienen. Der DU Norden ist geprägt von anhaltendem sozioökonomischen Niedergang und Deinvestition und hat eine fast schon modellhafte Anpassung erlebt, in der die vernichtenden Wirkungen ungehinderter Profitmaximierung und der fehlende rechtliche Schutz auf die Arbeits- und Lebensverhältnisse von Migranten besonders sichtbar werden.

Das „Modell Marxloh“ beruht auf einer gut abgestimmten Mischung aus einem engmaschigen Netz von Subunternehmern, spekulativen Wohnungsmärkten und einschüchternden und erpresserischen Praktiken. Im Ergebnis entsteht ein eigenständiges, segregiertes Beschäftigungssystem, das durch ein hohes Maß an Informalität und zunehmenden Abhängigkeiten von Subunternehmern gekennzeichnet ist. Sprachliche und ethnische Netzwerke schmieren das Räderwerk dieser ausbeuterischen Struktur – sie sorgen für einen schnellen und einfachen Zugang zu den Niedriglohnsektoren in der Reinigung, Verpackung und Logistik, im Bauwesen und in anderen Sektoren und schmieden gleichzeitig intransparente Abhängigkeitsverhältnisse, die ein Entstehen von kollektiver Verhandlungsmacht wie auch den Ausstieg aus dem System erschweren. Nationale Gesetzgebung und EU-Personenfreizügigkeit liefern den rechtlichen Rahmen für das Aufblühen dieser extrem ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnisse und sorgen für ein anhaltendes Angebot an flexiblen, billigen und entrechteten Arbeitskräften aus Bulgarien und Rumänien.

Diese Ausbreitung von Leiharbeitsverhältnissen in Deutschland ist ein direktes Ergebnis der Gesetzgebung, mit denen verschiedene Regierungen seit Anfang der 2000er-Jahre den Arbeitsschutz abgebaut und flexible Arbeit ermöglicht haben. In der Reinigungsbranche, im Baugewerbe, in der Logistik und in der Landwirtschaft dominieren diese atypischenBeschäftigungsverhältnisse die Arbeitsorganisation. Vor allem dort hat sich ein paralleler Arbeitsmarkt mit prekären Jobs herausgebildet und umgekehrt die Vulnerabilität der Arbeitnehmer erhöht und ihnen die Chance auf ein Mindestmaß sozioökonomischer Sicherheit geraubt.

Um ein Beispiel zu nennen: Gegenwärtig werden die thyssenkrupp steel Produktionsstätten in Duisburg-Bruckhausen von zwanzig Reinigungsfirmen betreut, die mehr als die Hälfte aller dort tätigen Reinigungskräfte beschäftigen (insgesamt zwischen 4.000 und 5.000 Personen). So unterschiedliche Zeitarbeitsfirmen wie Eleman GmbH oder Europas größte Zeitarbeitsfirma Randstad sorgen für einen anhaltenden Nachschub flexibler Arbeitskräfte, die bei Bedarf in die Produktionskette eingespeist und auch wieder entlassen werden können.

Die unterste Ebene des lokalen Arbeitsmarktes besteht aus kleinen, oft wenig sichtbaren oder informellen Zeitarbeitsfirmen, oder Einzelpersonen, die Arbeitsgelegenheiten vermitteln und die als Bindeglied zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern fungieren. Ihre Tätigkeit beschränkt sich aber nicht nur auf Arbeitsvermittlung, sondern betrifft auch andere Lebensbereiche wie Unterkunft, Transport, Gesundheitsversorgung etc. Somit wird die Abhängigkeit und de facto Hilflosigkeit von Migrant:innen ohne deutsche Sprachkenntnisse effektiv ausgenutzt und werden diese in Arbeitsverhältnisse mit inakzeptabler Vergütung und Arbeitsbedingungen getrieben. 

Bei thyssenkrupp steel wie auch im Arbeitsmarkt insgesamt hat man es also mit einem Zwei-Klassen-System zu tun: Es gibt einerseits die Stammbelegschaft mit ordentlichen, oft unbefristeten Arbeitsverträgen und Sozialversicherungsschutz. Sie setzen sich meist aus deutschen Staatsangehörigen und etablierten Migrantengruppen aus der Gastarbeitergeneration des 20. Jh. zusammen. Auf der zweiten Stufe im Niedriglohnsekgtor werden EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien sowie Syrer und Afghanen mit Flüchtlingsstatus über Subunternehmen in Leiharbeitsverhältnissen beschäftigt. … Beschäftigungsbezogene Missstände und Arbeitsverstöße, auch das Vorenthalten von Lohn, prägen den Alltag in diesem untersten Beschäftigungssegment. Gängige Praxis ist etwa die Manipulation bei Überstunden: Obwohl Arbeiter nur für 60 bis 80 Stunden im Monat eingestellt wurden, müssen sie oftmals die doppelte Menge an Stunden leisten. Vom Arbeitgeber werden die Überstunden nicht vollständig angerechnet oder einfach nicht ausgezahlt. Die Überstunden werden auch als Druckmittel eingesetzt, um die Beschäftigten davon abzuhalten, ihre Rechte geltend zu machen. Der Arbeitgeber kann dann damit drohen, die ausstehenden Stunden in voller Höhe auszuzahlen, was zum Überschreiten der monatlichen Einkommensgrenze führen würde, etwa für das Aufstocken mit Bürgergeld, was entsprechende Sanktionen oder zusätzliche Bürokratie nach sich zieht, die die Migrantischen Arbeiter aufgrund ihrer kompletten Abhängigkeit von deutschsprachigen Vermittlern unbedingt vermeiden wollen.

Ein anderes weit verbreitetes Phänomen sind sogenannte ‚Stand-by-Verträge‘, bei denen schriftliche Vereinbarungen ausgearbeitet werden, die nicht registriert werden, und die die Arbeitgeber im Falle einer Arbeitsinspektion mit gefälschten Vertragsdaten vorlegen. Damit werden Sozialversicherungsbeiträge gespart, und eine große Zahl von hyperflexiblen und informellen Arbeitskräften können angeboten werden, um auf Auftragsschwankungen zu reagieren. Die Hyperflexibilität des Arbeitsprozesses bei Thyssenkrupp wie auch in anderen Produktionsstätten erfordert diese Praxis, Beschäftigte ‚Just in Time‘ einzustellen und den Arbeitsumfang je nach Bedarf anzupassen. Damit müssen mobile und flexible Arbeitskräfte ‚vor Ort‘ vorgehalten werden, die – wann immer sie gebraucht werden – eingesetzt werden können. Umgekehrt wird von den Beschäftigten erwartet, dass sie eine ‚beschäftigungsorientierte‘ Haltung entwickeln, sich an atypische Arbeitszeiten gewöhnen, zur Arbeit herangezogen und auch ohne Vorankündigung entlassen werden können, und Arbeitseinsätze an abgelegenen Standorten mit unvorhersehbarer Dauerakzeptieren.

Was folgt daraus und was können und müssen wir angesichts dieser Lage tun?

All dies demonstriert, dass es v.a. in Marxloh und im Duisburger Norden, aber auch in ganz Deutschland eine Re-Regulierung des Arbeitsmarktes v.a. im Bereich der Niedriglohnbeschäftigung und ihrer Grau- und Schwarzbereiche, also in der illegalen Beschäftigung braucht.

Die Umsetzung der Neuordnung des Subunternehmermarktes in der Fleischindustrie zeigt, dass z.B. bei Arbeitssicherheit- und generellen Betriebskontrollen nicht die geplanten Kapazitäten geschaffen wurden und somit Missbrauch und Ausbeutung einfach in die Hauptunternehmen wie Tönnies zurückgelagert werden können. 

Vor allem brauchen wir auch eine Entkriminalisierung der Arbeitnehmer in den Mechanismen und Praktiken der Meldung von illegaler Beschäftigung Missbrauch seitens Arbeitnehmern. Meldungen beim Zoll stehen weiter außer Frage, da hier AN standardmäßig mit in die strafrechtliche Haftung und Verfolgung  einbezogen werden.

Das Arbeitsgericht ist als Institution zum Einfordern von Arbeitnehmer-Rechten immer noch zu weit weg und verlangt zu viel Übersetzung und Begleitung von migrantischen Arbeiter:innen als dass es eine realistischer und in der Breite genutzter Mechanismus werden könnte; vielleicht lässt sich hier jedoch weitere Möglichkeiten in Kombination mit Unterstützungsangeboten wie der Sozialberatung erschließen.

Um diese Veränderungen herbeizuführen, denken wir von Stolipinovo in Europa, dass alle Register gezogen werden sollten und somit auch in den aktuellen Diskurs um die Bundestagswahlen, oder spätestens im Kommunalwahlkampf interveniert werden sollte. Wir finden, dass sich alle anti-rassistischen und anti-militaristischen Organisationen und Initiativen die politischen Parteien und auch die Stadt Duisburg in Verantwortung für die aktuelle Lage von Migrant:innen und kulturellen Minderheiten ziehen sollte. Folgende Forderungen erscheinen hierbei zentral:

  1. Die Partien, die etablierte Politik als Ganzes und die Stadt Duisburg müssen der Realität der Migrationsgesellschaft in DU ins Auge blicken und Verantwortung für einen menschenwürdigen Umgang mit und Lösung von Fragestellung hinsichtlich Migration übernehmen, insbesondere angesichts des allgemeinen Rechtsruck in D und v.a. in DU.
  2. Man kann nicht nur Wahlbeteiligung als zentralen oder einzigen Aspekt politischer Beteiligung sehen. Vielmehr muss gefragt, analysiert und artikuliert werden, was Parteien und Politik als solche für mehr Beteiligung und Interesse seitens Migrant:innen-Community tun kann. Zentral ist hierbei die Frage, wo, wie und mit welchen Ergebnissen die Politik für Interessen migrantischer Gruppen überhaupt eintritt!! Aktuell ist hier wenig bis gar nichts zu sehen. Das heißt, wir müssen die betreffenden Akteure zur Positionierung  und Erklärung dieser Lage bringen!
  3. Die Politk muss die Mechanismen und Strukturen, welche die Produktion von Armut und Marginalisierung von Menschen mit Migrationshintergrund ermöglichen und verstetigen, anerkennen, explizit benennen und akgiv bekämpfen. Vor allem muss hierbei ein besonderes Augenmerk auf die Nicht-Regulierung und fehlende Kontrolle im Arbeitsmarkt bei extrem willkürlichen und ausbeuterischen Verhältnissen gelegt werden.

Ebenso wichtig ist es die staatlich geförderte Prekarisierung durch weit verbeitete Aufstockung von geringfügigen Teilzeitjobs zu stoppen. Dies passiert in vielen Fällen, in denen Anstellungen zumutbar und praktikabel sind und AG entsprechend verpflichtet werden müssten vollwertige Arbeitsverträge auszustellen. 

  • Die Parteien der sog. „demokratischen Mitte“ müssen dazu angehalten werden, sich zu ihren jeweiligen demokratischen und gesellschaftlichen Grundwerten zu benennen. Die aktuelle Lage von Migrant:innen und Minderheiten in Duisburg, und v.a. die repressive und entmenschlichende Politik und Praxis der Stadt Duisburg – v.a. in Form von Zwangsräumungen und systematischer Drangsalierung durch Ordnungsamt und Polizei – ist überhaupt nicht mit diesen Grundwerten vereinbar. Statt dies zur Sprache zu bringen und Veränderung zu fordern, gehen manche Lokalpolitiker sogar soweit, von den betroffenen Migrant:innen zu verlangen „still“ zu sein und nicht weitere Repressalien von den Behörden zu provozieren. Diese Täter-Opfer-Umkehr können wir nicht akzeptieren und sollten wir öffentlichkeitswirksam aufs Schärfste abweisen und eine ehrliche, faktenbasierte Einschätzung der Lage und die daraus folgenden Veränderungen im politischen Diskurs einfordern.